Titelthema – Was bleibt vom Lohn, von HartzIV oder von der Rente übrig, wenn die Miete mehr als die Hälfte des Einkommens frisst? Ein karges Loch auf dem Konto oder in der Spardose und das dumpfe Gefühl, dass es irgendwann nicht mehr ausreichen könnte. Eine Bestandsaufnahme im täglichen Mietenwahnsinn:
Mehr als 180 000 Menschen leben zusammen im Wedding/Gesundbrunnen und die meisten davon wohnen zur Miete. Ob nun frisch saniert und neuvermietet oder mit altem Mietvertrag gerade eben eine neue Spüle erbettelt – die Mietspirale im Kiez schraubt sich nach oben und alle sind betroffen.
Die Wut und Spannung in den Berliner Kiezen über diese Zustände sollte nicht zuletzt durch die Demonstration gegen Verdrängung und Mietenwahnsin am 14. April 2018 mit fast 30.000 Menschen auch den letzten Hinterhof und Schreibtisch erreicht haben. Auch hier im Wedding zog zwei Wochen später eine antikapitalistische Demonstration mit 3.000 Nachbar*innen unter dem Motto „Widerständig und solidarisch im Alltag“ durch den Kiez, bei der das Recht auf Wohnen für alle eine der Hauptanliegen war. Die Sozial- und Wohnungsbaupolitikist kaputt. Spekulant*innen erzielen immer höhere Gewinne beim Verkauf von Immobilien und ziehen damit andere Spekulant*innen an. Berlin ist die Nummer eins – und zwar weltweit – beim Anstieg der erzielten Preise für Immobilien (1). Auch Wohnungsbaugesellschaften wie Akelius oder Deutsche Wohnen wittern höhere Einnahmen und ziehen seit Jahren die Mietpreisean, so auch die DeGeWo im Brunnenviertel.
Alltägliche Angst
Wohnen ist ein Grundrecht und die soziale Lebensgrundlage. Viele Nachbar*innen realisieren das erst, wenn ihre Wohnsituation selbst bedroht ist. Angst vor dem Verkauf der Wohnung und einer teuren Sanierung ist allgegenwärtig. Kaum jemand kann sich noch den Umzug leisten und vor allem bei Familiennachwuchs wird noch eher kreativ umgebaut, als die aussichtslose Wohnungssuche beschritten. Das führt auch dazu, dass in Berlin immer mehr Menschen auf immer weniger Raum leben müssen.
Raus aus der Bude
5000 – 7000 Räumungen finden jährlich allein in Berlin statt. Studien sprechen von mehr als 25 Zwangsräumungen pro Tag.(2) Menschen die dadurch wohnungslos werden, sehen sich darüber hinaus auch mit einem versagenden staatlichen Hilfesystem und Diskriminierung auf vielen Ebenen konfrontiert. Am Ende verdienen private Investor*innen an dieser Krise, denn die gesetzlichen Notunterkünfte für Wohnungslose werden oft privat betrieben und kosten pro Übernachtung.
Eine Wohngemeinschaft (WG) in der Dubliner Straße 8 soll nach dem Willen des Eigentümers, die Großvenediger GmbH, nun auch auf der Straße landen. Seit mehreren Jahren wehren sie sich aber gegen die Schikanen der Verdrängung. Mittlerweile liegt in diesem Fall sogar eine Beschwerde beim Bundesgerichtshof (BGH) vor. Trotzdem wurde für den 25.04.18, noch vor dem Entscheid des BGH, eine Zwangsräumung angesetzt.
«Ich war unfassbar wütend über die Eigentümerin, weil sie noch nicht einmal das Urteil des BGHs abwarten wollte. Mein Zorn steigerte aber auch meinen Widerstandswillen!», berichtet ein Bewohner aus der WG.
Auch im Fall der Dubliner Straße 8 wird klar, dass trotz des immensen Einsatzes von Rechtsmitteln, also Klagen und Berufungen, bisher kaum auf Gerichte oder eine faire Rechtsprechung zu bauen ist. Die WG hat sich daher bereits vor der Eskalation durch die Eigentümerseite dazu entschieden, öffentlich mit Plakaten in der Nachbarschaft auf die Situation aufmerksam zu machen und mit Nachbar*innen ins Gespräch zu kommen. Für den äußersten Fall der angekündigten Zwangsräumung wurde sogar mehrere Tage vorher öffentlich zum Blockieren der Wohnung aufgerufen. Diese wurde dann aber doch am Tag zuvor abgesagt, da die Wohngemeinschaft durch das Hinterlegen einer sog. Sicherheitsleistung bei Gericht für einen Aufschub sorgte. Die Zukunft ist weiterhin ungewiss. Jederzeit kann ein neuer Räumungstermin ins Haus flattern.
Das hat System
Was bringt uns Mieter*innen mit wenig Geld eigentlich in diese Lage? Kurz gesagt: Verwertung von Wohnraum. Die Wohnung wird zu einem Renditeobjekt, das am Markt angepriesen und zur richtigen Zeit verkauft wird und so zählt das Geschäft mit der Wohnung mehr als die Menschen, die drin wohnen. Menschen mit viel Geld kaufen an allen Ecken Häuser, um sie dann wieder teurer zu verkaufen oder mit den hohen Mieteinnahmen kräftig abzusahnen. Die amtierenden Parteien der letzten zwei Jahrzehnte setzten durch die Bank weg auf Privatisierung und geben Investor*innen immer mehr Freiheit im öffentlichen Raum.
Auch im Wedding bedeutet das: Krise! Heute werden diese Probleme von Politiker*innen vielleicht häu ger benannt, aber trotzdem werden ganze Konzepte ungeniert als Lösungen präsentiert, die der reinen Krisenverwaltung dienen. Selbst der vorsitzende Richter der Zivilkammer 67 des Berliner Landgerichts Michael Reinke hält offenkundig die Mietpreisbremse für verfassungswidrig. Eine Frechheit angesichts der Zustände. Denn eine ernsthaft nachhaltige Wohn- und Sozialpolitik ist unter diesen Vorzeichen nicht möglich. Es bleibt bei der Image-Pflege und Kosmetik, denn alle wissen: Berlin ist pleite und verschuldet. Und so wird der Verwertung und dem Ausverkauf der Stadt und unserer Kieze auch weiterhin von Oben nichts entgegengesetzt werden.
Zusammen mehr erreichen
Ein wirklicher Wandel ist mehr als notwendig. Denn mehr als 80% der in Berlin lebenden Menschen sind Mieter*innen und somit betroffen. Direkte Beteiligung, eine «Partizipation» der Menschen aus dem Kiez, vorallem, bei der Planung von Neubebauungen sind immer wieder Nebelkerzen, die in Regierungspapieren auftauchen. Tatsächlich dient diese, wie die Erfahrung zeigt, nur einer schleichenden Akzeptanz gegenüber großen bezirklichen oder privaten Planungsvorhaben oder ist nicht wörtlich zu nehmen. Direkte Nachbarschaftsdemokratie für eine bedürfnisorientierte Planung durch z.B. Mieter*innen-Kommittees finden in diesen Konzepten keinen Platz.
Doch im Grunde wäre der notwendige Wandel eben genau diese Stärkung von nachbarschaftlichen Strukturen. Das Ziel kann dabei nur heißen: Gemeinsam die Situation für uns alle zu verbessern. Nicht durch Konzepte von Oben also dem Bezirk, Senat oder Scheinbeteiligungen in exklusiven Stadtteilversammlungen wie in der Vergangenheit beim Quartiersmanagement Projekt «Mensch. Müller».
Immer wieder tun sich Menschen im Wedding zusammen, um sich gemeinsam gegen diese Zustände zu wehren. Einige erinnern sich vielleicht noch an die öffentlichkeitswirksamen Proteste einiger Häuser aus der Koloniestraße gegen Mieterhöhung im Jahr 2015 und auch von der WG aus der Dubliner Straße haben sicher manche schon gehört. Neu gegründet hat sich 2018 das Netzwerk «Zusammen für Wohnraum», das Leute schon vor dem Ernstfall zusammen bringen und Perspektiven erarbeiten möchte.
Netzwerk «Zusammen für Wohnraum»
Auf Anfrage der Redaktion berichtet die aktive Nachbar*in Julia von den bisherigen Treffen:
«Seit dem 3. Netzwerktreffen wird aktiv an der Struktur der Vernetzungstreffen gearbeitet. Neben der Vorstellungsrunde sind nun auch eine kostenlose Mietrechtsberatung und eine Gruppenarbeitsphase Teil des Ablaufs. Abgeschlossen werden die Treffen von einer Feedback-Runde und der Absprache, welche Hausgemeinschaft bzw. Personen nächste Tre en vorbereiten und moderieren.»
Außerdem bekamen wir Auskünfte über die Hintergründe der Treffen:
«Hervorgegangen ist das Netzwerk Zusammen für Wohnraum aus dem Kampf der Hausgemeinschaft AmMa 65 (Eckhäuser der Amsterdamer Straße 14 und Malplaquetstraße 25). Anders als in vielen anderen Mietshäusern solidarisierten sich die Bewohner*innen bereits ohne akute Bedrohung miteinander: Sie feierten Hoffeste und lernten sich untereinander kennen…»
Um das erworbene Wissen und ihre Erfahrungen mit anderen Mieter*innen und Hausgemeinschaften zu teilen, eine starke und widerständige Mieter*innenselbstorganisierung und Unterstützungsbasis für alle von Verdrängung Betroffenen zu schaffen, initiierten sie das erste Netzwerktreffen.
«Einige, die das erste Mal erzählen, wirken zu Beginn unsicher. Gedanken daran, ob die derzeitige Situation nicht doch selbst verschuldet oder als übertrieben wahrgenommen wird, sind vielen bekannt. Im Verlauf ihrer Erzählung, das gegenseitige Zuhören und das offenkundige Interesse der anderen Anwesenden gewinnen viele jedoch mehr Sicherheit und Überzeugung. Es ist erstaunlich, welche Wirkung es auf Menschen hat, wenn sie von belastenden und ungerechten Situationen erzählen können, ihnen zugehört wird, sie auf Verständnis und Unterstützung stoßen.»
Aktionswochen im Wedding
Neben solchen regelmäßigen Mieter*innentreffen im Wedding fand vom 20. – 30. April 2018 eine Aktionswoche «Widerständig und solidarisch im Alltag – Organize!» statt. Die Fülle an Veranstaltungen zeigt auf, welche sozialen Kämpfe im Großbezirk von Moabit bis Pankow stattfinden. Ein Bündnis bestehend aus Vereinen wie der Berliner Obdachlosenhilfe e.V., der Berliner Kampagne «Ban! Racial Profiling – Gefährliche Orte abschaffen!» oder der Stadtteilinitiative «Hände weg vom Wedding» kamen im Vorfeld der jährlichen antikapitalistischen Demonstration am 30. April zusammen. Bestandteil der Aktionswoche war neben Aktionen wie Filmvorführungen, Kiezspaziergängen, Diskussions- und Informationsveranstaltungen auch eine Nachbarschaftsversammlung in der Kornelius-Gemeinde in der Edinburger Str. 78. Anlässlich des bereits erwähnten Zwangsräumungstermin der Dubliner Straße 8 stellten In den Räumen der Gemeinde stellten sich Initiativen wie «Zwangsräumungen verhindern!» den 20- 30 anwesenden Nachbar*innen vor. Ziele und Möglichkeiten des Protests gegen die Zwangsräumung und der angekündigten Blockade wurden angesprochen. Gemeinsame Räume für Versammlungen wie diese sind Möglichkeiten, um überhaupt die Menschen von Nebenan und deren Situation kennenzulernen.
Aktiv werden
Um uns gegenseitig zu stärken, müssen uns und unsere Nachbar*innen als Mieter*innen im Alltag ernstnehmen. Dazu stehen bereits Organisierungsangebote zur Verfügung. Die Mitgliedschaft bei der Berliner Mietergemeinschaft e.V. bietet beispielsweise erste Grundstrukturen, um sich als Mieter*innen eine Stimme zu geben. Und auch wenn der Weg von der ersten Empörung über unerhörte Briefe der Hausverwaltung bis zur Haussprecher*innenwahl nicht der kürzeste ist, bietet beispielsweise «#ZusammenfürWohnraum» einen Ort für Mieter*innen, die sich bewegen wollen. Es ist wichtig, dass wir mit unseren Nachbar*innen reden und sie kennenlernen, damit wir uns dann gemeinsam wehren können.
(1) taz: «Berlin endlich Weltspitze» 11.04.18
(2) Holm/Berner/Jensen: «Zwangsräumungen und die Krise des Hilfesystems in Berlin»