Italien in der Pandemie

500 neue Coronafälle nach Schulöffnungen. Schüler*innen und Lehrer*innen protestierten landesweit am 25./26.9.20 gegen die Politik des Bildungsministeriums.

Das Virus befeuert das Elend, die armut und die bestehenden Verteilungskämpfe

Bericht International– Als im Februar-März 2020 die sogenannte Corona-Krise aus- brach, konnte sich niemand vorstellen, welches Ausmaß sie annehmen und dass sie die gesellschaftlichen Verhältnisse auf diese Weise verändern würde. Trotzdem sind die starken Umwälzungen – gerade auch in Italien – nicht überraschend. Denn es handelt sich schließlich um eine Weiterführung der Wirtschaftskrise von 2008/09-2012, von der sich die südeuropäische Halbinsel bis vor der Pandemie noch nicht wirklich erholt hatte.

Das Bruttoinlandsprodukt Italiens lag seit der Jahrtausendwende stets unter dem EU-Durchschnitt, der Rückgang in der Krise 2009 erreichte knapp -6%, drei Jahre später verzeichnete er -3%. Die Erholung in den Folgejahren war schleppend, im Jahr 2019 verzeichnete Italien BIP-Wachstum von nur +0.3%. Und aktuell fällt es noch rapider: Der Internationale Währungsfonds geht für das Jahr 2020 von einem Rückgang von 12.8% aus, im Falle einer «zweiten Welle» des Virus könnte sich die Rezession noch verschlimmern.

Der Unternehmensverband Confindustria war sich dessen seit dem Ausbruch der Pandemie bewusst. Als die italienische Regierung von Giuseppe Conte am 9. März 2020 verlauten ließ, aufgrund des Coronavirus alle nicht lebensnotwendigen Aktivitäten zu schließen, übte die Confindustria umgehend Druck auf die Regierung aus. Die Angst vor der Pandemie war groß, doch noch größer war die Angst vor einer weiteren Vertiefung der ökonomischen Krise und somit vor dem Verlust von «Marktanteilen» und Profitmöglichkeiten auf Unternehmensseite. Es musste also weiter produziert werden und zwar möglichst in allen Sektoren.

Obwohl die Zahlen der Corona-Erkrankungen und der Toten im ersten Monat der Pandemie stetig stiegen (am 27. März zählte man 919 Tote!), konnte schließlich Confindustria erzwingen, dass rund 60% der Betriebe während der gesamten «ersten Welle» weiterproduzierten. Besonders in Norditalien, dem industriellen Zentrum des Landes, verbreitete sich infolge dessen das Virus an den Arbeitsplätzen rasant. Die Arbeiter*innen reagierten kämpferisch auf die Missstände in den Betrieben. Fehlende Schutzmaßnahmen wie die Zurverfügungstellung von Masken, die regelmäßige Desinfizierung der Arbeitsplätze und die vorübergehende Schließung beim Aufdecken von Corona-Fällen gehörten zu den Hauptgründen der zahlreichen Arbeitsniederlegungen in der ersten Phase der Pandemie. Tatsächlich konnten die Arbeiter*innen dadurch verschiedentlich Verbesserungen in den Betrieben erzwingen.

Hundertausende Jobs vernichtet

Der Staat allerdings hinkte in der Frage der sozialen Absicherung weit hinter den Bedürfnissen der Arbeiter*innen her. Obwohl die Kurzarbeitsregelung erweitert wurde, blieben zahlreiche Arbeiter*innen davon ausgeschlossen und die atypischen Arbeiter*innen (Zeitarbeit, (Schein-)Selbständige etc.) erhielten im besten Falle nur Einmalzahlungen. Dies führte zu einer seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehenen Verarmung breiter Gesellschafts- schichten. Im Juni waren laut offiziellen Schätzungen 1 Million Menschen in die Armut abgerutscht. Karitative Organisationen sprachen von einer 40%-igen Erhöhung ihrer «Klient*innen» bei der kostenlosen Essensverteilung.

Besonders betroffen von diesen Verarmungsprozessen sind Arbeiter*innen im informellen Sektor. Im Tourismus und der Gastronomie beispielsweise konnte auch das Kündigungsverbot den Job von zehntausenden von Menschen nicht retten, da viele ohne Vertrag arbeiten. Zudem gab das Virus den geographischen Regionen praktisch den Todesstoß, die schon vor dem Corona-Ausbruch ökonomisch noch den Vorkrisenzahlen 2008-2012 hinterher hinkten: Im Süden Italiens, wo die offizielle Arbeitslosenquote schon knapp 20% beträgt, rechnet man bis Jahresende mit dem Verlust von weiteren 650.000 Arbeitsplätzen.

Diese soziale Situation bereitet den Politiker*innen Sorgen. Die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese erklärte noch vor einigen Wochen in der nationalen Presse, die Politik müsse sich auf einen «heissen Herbst» gefasst machen, falls Unternehmen und Regierung nicht gewillt seien, die Notlage zahlreicher Arbeiter*innen ernst zu nehmen. Der Kochtopf brodelt und es bleibt offen, welchen Weg die Verteilungskämpfe in Italien einschlagen werden.

Dieser Beitrag von Maurizio Coppola, aktiv in Neapel bei „Potere al Popolo!“, erschien in der Plumpe #6 (September 2020)