Pflege-Protest in der Krise

Transparent "Genug gespart bei Pflege und Erziehung"

Thema2016 gründete sich der Berliner Pflegestammtisch, der seitdem jedes Jahr den Walk of Care organisiert, eine Demonstration am 12. Mai, dem internationalen Tag der Pflegenden. „Wir sind hier, mittwochs um vier“ hallt es nun seit einem Jahr wöchentlich vor dem Gesundheitsministerium in der Friedrichstraße. Mit ihrer neuen Kampagne #gibuns5 richten sie ihren Kampf gegen ein kaputtgespartes, patientenfeindliches Gesundheitssystem. Ein Plumpe-Interview mit dem Walk of Care:

Wie sieht euer Arbeitsalltag aus? 

Wir arbeiten alle in unterschiedlichen Bereichen im Gesundheitswesen und sind aus unterschiedlichen Professionen. Manche sind noch in ihrer Ausbildung oder Studium, manche bereits ausgelernt. Was uns alle eint, ist, dass wir jeden Tag im engen Kontakt mit Menschen stehen, die auf irgendeine Weise Unterstützung benötigen, um sich einer gesundheitlichen Krise zu stellen. Dabei müssen wir uns alle konstant dem ökonomischen Druck stellen, den das Gesundheitssystem aktuell ausmacht. Das heißt konkret: Zu wenig Zeit, zu wenig Personal, geringer Verdienst und Outsourcing von allem was geht und somit Qualitätseinbußen.

Dem uns anvertrauten Menschen wird seine Menschlichkeit abgesprochen, denn auch er*sie selbst steht unter konstantem Druck so schnell wie möglich gesund zu werden oder sich für teuerste Behandlung zu entscheiden. Dabei wird das Gesundheitspersonal ungewollt zum ausführenden Organ dieser Marktlogik. Wir lernen jahrelang, wie wir Menschen ganzheitlich dabei helfen, sich jeglichen gesundheitlichen Herausforderungen zu stellen, damit sie einen selbstbestimmten Genesungsweg/Sterbeweg/Alltag gestalten können. Aber das System in dem wir arbeiten müssen, wurde nie dafür geschaffen, genau das zu ermöglichen. Es zwingt uns beispielsweise in der Pflege, durchschnittlich viel zu viele Patient*innen betreuen zu müssen und das sogar teilweise schon in der Ausbildung, in der wir eigentlich lernen sollten. Das führt dazu, dass wir, statt Menschen nach ihren individuellen Bedürfnissen zu behandeln, sie nach einer Art Standardschema abfertigen müssen, um so schnell wie möglich zur nächsten Person zu kommen, um wenigstens eine Art Notfallversorgung aufrecht zu erhalten. Wir müssen bis zu einem gewissen Grad Patient*innen genau so behandeln wie das System sie sieht: Als Fälle. Das stumpft viele von uns ab, führt zu einer unglaublich hohen Burnout Quote, viel Teilzeitarbeit und dazu, dass viele die Ausbildung selbst gar nicht beenden. 

Was hat sich seit der Corona-Pandemie verändert?

Die Situation hat sich dramatisch verschlimmert. Wobei gesagt werden muss, dass Corona in erster Linie die bereits vorher bestehenden Probleme verdeutlicht hat. Wie unter einem Brennglas wurden die Folgen der verfehlten Gesundheitspolitik der letzten Jahrzehnte deutlich. Während die Gesellschaft sich gut fühlen konnte, nachdem sie ein paar Wochen für uns geklatscht haben und uns als systemrelevant gewürdigt haben, mussten wir unter noch angespannteren Verhältnissen die Pandemie aushalten. Personaluntergrenzen wurden ausgesetzt, es gab viel zu wenig Schutzkleidung, sodass wir uns und die Menschen in unserer Umgebung gefährden mussten, Auszubildende wurden ohne Erfahrung auf COVID Stationen eingesetzt oder angefragt, um Testungen in Pflegeheimen durchzuführen. So sah und sieht die Realität aus. Gleichzeitig muss man sich ansehen wie Tausende auf den Straßen dafür demonstrieren, sich ja nicht minimal einschränken zu müssen. Und natürlich tun Schulschließungen weh und treffen insbesondere die ärmeren Familien. Aber wer eine Maske als Maulkorb bezeichnet und so tut, als wäre eine Pandemie so wie eine Grippe, sieht einfach nicht, was wir tagtäglich leisten: Seit Monaten kämpfen wir um euer Leben, das Leben eurer Liebsten. Wir müssen dabei zusehen wie unsere Kolleg*innen sich infizieren und sterben. Wir waren es, die versucht haben den Tod jeder/jedes Einzelnen der 80.000, die an Corona verstorben sind, so würdevoll wie möglich zu gestalten, auch wenn wir dafür eigentlich keine Zeit haben. Das zu ermöglichen, ist leider zu einem Privileg geworden. Das Absurde ist: Bereits jetzt wird schon überlegt, wie Krankenhäuser wieder mehr Geld machen können, um die Einbußen der Pandemie auszugleichen. Noch weniger Personal. Mehr operative Eingriffe. Eine Pandemie passt eben nicht rein in dieses System, in dem der Markt eigentlich alles regeln soll. Wenn nicht davor schon, sollten wir uns als Gesellschaft spätestens jetzt überlegen, ob unsere Gesundheit wirklich von einer Marktlogik abhängig sein sollte.

Was sind eure Forderungen?

Unter dem #gibuns5 stellen wir 5 Forderungen an die Politik für ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen: Wir fordern eine gesetzliche Personalbemessung, damit es endlich einen Druck für Arbeitgeber*innen gibt, mehr Personal einzustellen und wir eine angemessene Anzahl an Menschen betreuen dürfen. Gute Ausbildung, in der wir genug Zeit, Ressourcen und eine angemessene Anleitung haben. Eine Fort- und Weiterbildungsordnung und somit ein Recht darauf, unser Wissen aktuell halten zu können. Eine bedarfsgerechte Finanzierung statt Gewinnmaximierung und somit die Abschaffung von pauschalisierter Vergütung und Schaffung eines solidarischen Finanzierungssystems, in dem der Mensch und nicht der Markt im Mittelpunkt steht. Politisches Mitspracherecht für alle Gesundheitsberufe, damit die Entscheidungen darüber, wie das System, das wir am Laufen halten, funktionieren soll, nicht mehr ohne uns getroffen werden.

Ihr wart einer der Hauptakteure der Kundgebung am diesjährigen 8.März unter dem Motto „Wir kriegen die Krise“. Warum ist Pflege ein feministisches Thema? 

Ähnlich wie es auch allgemein bei der Sorgearbeit der Fall ist, wird ein Hauptteil der Pflege von Frauen durchgeführt. Das liegt historisch gesehen noch immer an der Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit: Sorgearbeit wurde im privaten Bereich von Frauen ausgeführt, während Männer öffentliche Posten bekleideten. Als Gesellschaft schätzen wir dadurch auch traditionell weiblich assoziierte Arbeit weniger wert und diese Berufe haben kaum eine Lobby. Gut organisiert sind die Berufe, die schon immer in der Öffentlichkeit stattgefunden haben. Außerdem wird häufig impliziert, es sei natürlich für Frauen, die notwendigen Kompetenzen für den Pflegeberuf zu besitzen. Es wird impliziert, es wären vermeintlich „weibliche“ Eigenschaften im Pflegeberuf gefordert – oder sogar die einzig notwendigen Kompetenzen. Die Komplexität der Arbeit wird nicht anerkannt. Dabei wird noch immer fachliches Wissen ignoriert und noch immer das „große Herz“ und soziale Kompetenzen verwechselt: Wir pflegen Menschen aus der ganzen Breite der Gesellschaft und aus allen sozioökonomischen Kontexten. Das erfordert nicht Nächstenliebe, sondern geschulte soziale Fähigkeiten. Es braucht aus guten Gründen einige Jahre an Ausbildung oder Studium, um Menschen pflegen zu können – die Komplexität des Pflegeberufs wird wie bei anderen „Frauenberufen“ nicht anerkannt oder honoriert. Gleichzeitig ist klar, dass wir als Gesellschaft niemals auf diese Arbeit verzichten könnten. Für ausgelagerte Arbeit, wie Verpflegung und Reinigung werden desweiteren oft mehrfach diskriminierte Frauen noch mehr ausgenutzt. An ihnen wird noch mehr gespart. Es sind gerade in dieser Pandemie außerdem besonders Frauen, denen zu Hause nun noch mehr Fürsorgearbeit aufgebürdet wird. Es zeigt sich also, dass unser Gesundheitswesen und unsere Gesellschaft nur auf dem Rücken von unterbezahlter Frauenarbeit funktioniert. Das muss sich ändern. Dafür braucht es feministische, antikapitalistische Politik.

Keine der Parteien hat eine eurer Forderungen in ihr Wahlprogramm für dieses Jahr übernommen. Trotzdem protestiert ihr weiter. Was müsste passieren, damit ihr euer Kampf Erfolg hat?

Auch wenn unsere Forderungen nicht so wortwörtlich in Programmen von Parteien stehen, ist es schon so, dass es Parteien gibt, die in viele Punkten mit dem übereinstimmen, was wir möchten. Uns ist es wichtig, dass das Thema Gesundheit bei diesen Wahlen eine Rolle spielt. Ebenso wollen wir, dass Menschen eine informierte Entscheidung darüber treffen, welche Parteien ein besseres Gesundheitssystem schaffen wollen. Ganz klar ist: So wie bisher kann es nicht weitergehen. Deshalb klären wir auch weiterhin bei unseren Kundgebungen darüber auf, was in den Wahlprogrammen steht und was das für uns im Gesundheitswesen und für die Gesundheit der Gesellschaft bedeutet. Gesundheit geht uns alle an. Deshalb brauchen wir die Hilfe und die (Wahl-)Stimmen aller, damit die Politik uns endlich zuhört.


Eine gekürzte Version dieses Interviews der Redaktion erschien in der PLUMPE #8 (Mai 2021)