«Wir hatten zwar nur Stube und Küche, aber eine Innentoilette!» – Alltag und Widerstand proletarischer Frauen in den 20er und 30er Jahren

Eine Stadtführung durch den Wedding berichtete vom Alltag und Widerstand proletarischer Frauen in den 20er und 30er Jahren

Geschichte– Am 22.08. fand die DenkMalTour «Proletarische Frauen im Wedding» statt, die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Helle Panke e.V. und den NaturFreunden Berlin veranstaltet wurde. Die Stadtforscherin Dr. Christine Scherzinger beginnt an der Ecke Kameruner Str./Lüderitzstr., von den Lebensbedingungen der Arbeiter*innen im «Roten Wedding» zu erzählen. In den Häusern mit drei bis sechs Hinterhöfen wohnen hauptsächlich Arbeiterfamilien mit vielen Kindern. Ein Bericht der Zeitzeugin Ursula Pawelke (geb. 1922) hebt die Besonderheit der Innentoilette hervor, die sie als Tochter eines Schlossers gemeinsam mit der Familie nutzt. In den 20er Jahren immer noch verbreitet waren Toiletten, die sich hunderte Mieter*innen eines Hauses teilen.

Antifaschistischer Widerstand

Die meisten Frauen der Weimarer Republik arbeiten, um Unterhalt und Wohnung ihrer Familien finanzieren zu können. Im Gegensatz zu bürgerlichen Frauen steht für sie die soziale Frage im Vordergrund. Viele von ihnen schließen sich später der Widerstandsbewegung gegen die NS-Diktatur an. Der «Rote Wedding» ist einer der letzten Bezirke, der an die NSDAP fällt. Scherzinger weist darauf hin, dass die Straßenschilder der nach Adolf Lüderitz benannten Straße von Aktivist*innen mit Farbe besprüht worden sind.(1)

In der Togostr. 78 findet sich ein Stolperstein für die ermordete Widerstandskämpferin Ella Trebe (1902-1943). Sie arbeitete auf dem AEG-Gelände in Gesundbrunnen, war gewerkschaftlich aktiv und vertrat die KPD von 1929 bis 1933 in der BVV. Nach der Machtübernahme Hitlers organisierte sie in mehreren Netzwerken den Informationsaustausch zwischen der KPD im Untergrund, der Sowjetunion und anderen Widerstandsgruppen. Durch einen von ihr versteckten Fallschirmspringer wurde sie enttarnt und anschließend im KZ Sachsenhausen hingerichtet. Louise Schroeder (1887-1957) wurde 1919 als eine der ersten Frauen Reichstagsabgeordnete der SPD. Nach ihr ist eine Sporthalle in Wedding benannt. Die Geschichte proletarischer Frauen ist im Stadtbild heutzutage jedoch kaum sichtbar.

Clara Zetkin in der Müllerstraße

Ein wichtiger Versammlungsort für SPD und KPD waren die ehemaligen Pharussäle an der Müllerstraße, wo sich heute ein Neubau der AOK befindet. Dort hielt auch die Reichstagsabgeordnete der KPD Clara Zetkin (1857-1933) Reden. Sie setzte sich für eine Frauenbewegung ein, die mit den patriarchalen, bürgerlichen Verhältnissen brechen sollte. In den Pharussälen fand 1927 außerdem die durch eine Rede Goebbels provozier-te Saalschlacht von SA-Männern und Kommunist*innen statt. Kurz nach dem berüchtigten «Blutmai» 1929 wurde hier der KPD-Parteitag abgehalten, auf dem die «Sozialfaschismusthese» beschlossen wurde, die die Feindschaft zwischen SPD und KPD theoretisch untermauerte. Die KPD hatte zum 1. Mai trotz Verbot des SPD-geführten Polizeipräsidiums zu Demonstrationen aufgerufen. Im Wedding fanden Barrikadenkämpfe statt. Die Polizei schoss mit Maschinengewehren wahllos in die Menschenmenge. Unter den Opfern ist auch die 16-jährige Arbeiterin Klara Kowaleski, die mit einem Schuss in den Rücken in der Gerichtstraße getötet wurde.

Die Tour endet nicht unweit des Leopoldplatzes, wo die führende Montessori-Pädagogin Clara Grunwald (1877-1943) 1924 ein Volkskinderhaus eröffnete. Nachdem ihr als Jüdin 1933 die Lehrerlaubnis entzogen wurde, verließ sie Deutschland nicht, sondern half anderen bei der Ausreise. Später erhielt sie die Genehmigung, in einem sogenannten «Umschulungslager» für jüdische Kinder zu arbeiten. Als die Kinder des Lagers nach Auschwitz deportiert werden sollten, bestand sie darauf, sie zu begleiten. Dort wurde die Gruppe im April 1943 ermordet. Am Clara-Grunwald-Haus in der Ruheplatzstr. 13 befindet sich eine Gedenktafel.

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(1) Lüderitz war der erste deutsche Kaufmann, der Land im heutigen Namibia für sich beanspruchte und ist damit einer der für den deutschen Kolonialismus maßgeblichen Akteure. 2018 beschloss die BVV die Änderung der nach Lüderitz und anderen Kolonialherren benannten Straßennamen. Jedoch ist eine Umbenennung bisher nicht erfolgt.

Dieser Beitrag erschien in der PLUMPE #6 (Sept. 2020)